Portraits & Interviews

Interview mit der Textilkünstlerin Lena Widmann

Inspiriert durch die Arbeit einiger Surrealistinnen des zwanzigsten Jahrhunderts schafft Lena Widmann dreidimensionale textile Kunstwerke. Ich konnte sie interviewen.

Wo sind Sie aufgewachsen und wo leben Sie heute?

Ich bin in einem kleinen süddeutschen Dorf aufgewachsen, weit entfernt von Kunst und Kultur: Weinberge, am frühen Abend hochgeklappte Bordsteine, Nachbarn, die brav grüßen – die Devise ist, besser nicht auffallen. All die Dorfkinder Deutschlands werden es kennen. Es ist ganz gemütlich und übersichtlich, wenn man reinpasst, schwierig, wenn man etwas eigensinniger ist. Obwohl in meinem direkten Umfeld wenig direkter Kontakt zu Kunst oder Design bestand, wusste ich schon früh, dass Stoffe mich anziehen. Was habe ich schon von jüngst auf gezeichnet, gefilzt und genäht, um mich in eine andere Welt zu träumen. Textil blieb der rote Faden in meinem Leben und führte mich in die Niederlande, wo ich seit vielen Jahren lebe und arbeite.

Haben Sie schon als Kind textile Techniken gelernt?

Schon früh war es für mich eine Flucht aus dem eigenen Kopf, meine Hände zu beschäftigen. Viele Formen von Kunsthandwerk haben mir dabei geholfen. Ich war als Kind verrückt nach Filz, habe aber auch schon in der Grundschule begonnen, meine eigenen Kleider zu entwerfen und zu nähen und all diese wilden Kombinationen dann natürlich auch zu tragen.

Welche Ausbildung haben Sie?

Nach dem Abitur wurde auch mir bewusst, dass ich irgendwann von etwas leben musste, aber das Kreative nicht als Hobby abtun konnte. Ich komme aus einer Familie, in der bisher nur Handfestes gelernt oder studiert wurde, also war meine Entscheidung, Modedesign in Pforzheim zu studieren, eine ziemliche Herausforderung. Nützlich sein – was auch immer das mit etwas Abstand betrachtet bedeuten mag – ist aufgrund meiner schwäbischen Erziehung ein Wert, der noch immer über allem schwebt und es hat viele Jahre gebraucht ihn zumindest in Maßen abzuschütteln.
Lange schien dies schwer mit dem Kreativen zu vereinen. Meine Hoffnung lag darin, in der Mode das Schaffende mit dem Praktischen und Nützlichen verbinden zu können, und bisher hat mich diese Berufsentscheidung nicht enttäuscht.

Sie arbeiten in der Modebranche. Was sind Ihre Aufgaben?

Wo soll ich anfangen? Eigentlich mache ich gerade mindestens drei Dinge gleichzeitig. Zum einen arbeite ich in den Niederlanden für eine große Herrenmodemarke als Head of Design. Das macht enorm Spaß, da es das Kreative mit dem Problemlösenden und auch dem Menschlichen verbindet: Ich leite den Kollektionsprozess, kümmere mich um stimmige Farbkarten, um die kommerzielle Übersetzung von Trends, und ich achte darauf, dass bis ins Detail ‚gute Produkte‘ entwickelt werden. Die größte Herausforderung besteht darin, den Kunden innerhalb dessen, was er als verständlich und tragbar empfindet, immer wieder aufs Neue zu überraschen. Meine Arbeit beinhaltet viel Kommunikation: mit anderen Abteilungen, meinem Designteam, dem Einkauf und dem Marketing. Gemeinsam müssen laufend Lösungen gefunden und Entscheidungen getroffen werden.

Zusätzlich habe ich vor einigen Jahren zusammen mit meinem Partner zwei unabhängige und nachhaltige Marken kreiert. Wir haben eine komplett nachhaltig in Deutschland handgefertigte Sneakermarke für Frauen namens SPITZ und eine ebenfalls in Deutschland produzierende Lingerie- und Nightwearmarke namens Lenagerie. Beide Marken sind aus meiner Begeisterung für Vintagemode entstanden.
Und nun, seit Kurzem, sind auch noch meine Textilobjekte dazu gekommen. Manchmal frage ich mich wirklich, wann wir das alles machen, denn wir haben auch noch Kinder!

Wie kam es zur Wiederentdeckung Ihrer Leidenschaft für Textil außerhalb des Kontexts der Mode?

Ich erinnere mich noch gut an die erste Notiz mit einer kleinen Zeichnung vor einigen Jahren, die den Grundstein für mein Textilprojekt gelegt hat. Damals war ich mit der Organisation eines botanisch inspirierten Fotoshootings für meine Sneakermarke Spitz beschäftigt, mitten im Zimmerpflanzenhype der 2010er. In der Notiz stand so etwas wie: „Warum sehen Kunstpflanzen eigentlich aus wie echte Pflanzen, wenn der Fantasie keine Grenzen gesetzt sein sollten?“ Daneben war eine lebende Pflanze mit Augen und Zungen gekritzelt. Die Idee blieb lange liegen, da Modeprojekte in meinem Leben Vorrang hatten, wuchs aber unbewusst immer weiter.

Durch mein Lingerie-Label Lenagerie, für das ich hochwertige Nachtwäsche in Deutschland entwerfe und herstelle, kam ich wieder mehr in Kontakt mit der sinnlichen und auf den weiblichen Körper abgestimmten Seite der Modewelt. Der Glanz und die Haptik von Satin wurden zu einem wichtigen Einfluss meiner Arbeit.

Außerdem vertiefte ich mich in die Arbeit einiger Surrealistinnen des zwanzigsten Jahrhunderts und war begeistert von deren Blick auf den weiblichen Körper, selbstbewusst, aktiv und von natürlicher Lust durchwoben. Künstlerinnen wie Leonor Fini, Bona de Mandiargues, Ithell Colquhoun oder die weniger bekannte Bele Bachem beeinflussten mich stark. Da sie alle größtenteils zweidimensional arbeiteten, entstand mein Wunsch, meine Leidenschaft für Textil und das Dreidimensionale in künstlerisches Schaffen zu übersetzen.

Was reizt Sie an Textilkunst als Kunstform?

Ich genieße das Gefühl von strategischer Kontrolle, wenn ich eines der blumenartigen Wesen schaffe. Ich kann genauso arbeiten wie beim Entwerfen und Fertigen eines Kleidungsstücks: erst eine Zeichnung und ein Plan, dann die Schnittteile der einzelnen Blütenblätter, eine Testphase, wie die Seide auf die Formen reagiert, dann wird gemalt und gefärbt und schließlich werden die Formen zu einem Gesamtprojekt zusammengesetzt.

Außerdem liebe ich Textil für seine haptische Eigenschaft und habe mich deshalb entschieden, nur mit Seidensatin zu arbeiten. Das weiche und geschmeidige Material unterstützt die weibliche und lustvolle Formgebung.

Welche textilen Techniken nutzen Sie?

Im Gegensatz zu meiner Arbeit in der Mode wird beim Herstellen der Seidenblumen weder genäht, noch gewebt oder gestrickt. Ich musste handwerklich also wieder bei Null anfangen und mich in eine komplett neue Welt einarbeiten. Um zu einer stimmigen Seidenblume zu kommen, wird die Seide erst versteift, dann werden die Seidenblätter Blatt für Blatt doppellagig zugeschnitten, mit feinem Draht dazwischen verklebt, einzeln bemalt und schließlich mit einem speziellen beheizbaren Instrument in Form gebogen. Stiele und große Blätter entstehen bei mir manchmal auch durch Filzen. Der Prozess ist sehr zeitaufwändig, zwingt mich aber zur Ruhe und macht mich dadurch bewusster.

Wie würden Sie Ihre Arbeit beschreiben?

In erster Instanz wird meine Arbeit oft als Surrealismus bezeichnet, womit ich mich auch identifizieren kann, denn ich genieße das Schaffen von hedonistischen, absurden Traumwelten. Nichts ist surrealer als der Einblick in das wirkliche Sinnliche, denn in den intimsten Momenten verschwindet jede letzte Illusion von Objektivität und Realität.

Historisch gesehen ist der weibliche Blick auf Surrealismus oft genussvoll und unverkopft, wie auch die besten Momente in meinen Dasein. Leiden bietet das Leben mehr als genug, warum sollte ich es auch noch in meiner Arbeit abbilden?
Auch ein wenig naiver Verspieltheit in der Bildsprache stehe ich nicht negativ gegenüber, denn ich war nie eine wirkliche Realistin. Mein Ziel ist es schließlich, anderen die Möglichkeit des ‚Fremdträumens‘ zu bescheren.
Ist Realismus am Ende nicht einfach nur die Illusion einiger Größenwahnsinniger, die davon überzeugt sind, dass ihr persönlicher Surrealismus auch für andere gelten muss?

Fotograf des Portraitfotos von Lena Widmann ist Robbie Augspurger.